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Mann meditiert

"Heute kann ich Schwächen zulassen"

ArtikelLesezeit: 4:00 min.

Roman Reinert, 45, Auslieferungsmanager im Flugzeugbau, Hamburg

Roman Reinert hatte nie das Gefühl, irgendetwas nicht schaffen zu können. Sein Selbstbewusstsein zog er aus beruflichen Erfolgserlebnissen – besonders dann, wenn er wieder einmal etwas geschafft hatte, das vorher unmöglich erschien. Doch irgendwann trifft es ihn wie aus heiterem Himmel: Burn-out. Erst durch einen Achtsamkeitskurs in der Klinik lernt er, wo seine Grenzen liegen und wie er sie schützen kann.

Wenn mir vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass ich heute manchmal mitten in einem stressigen Meeting aufstehe, mich mit einem Kaffee auf die Süderelbwiese vor der Firma setze und ganz bewusst darauf achte, wie dieser Kaffee riecht, wie er schmeckt, wie sich die Tasse in meiner Hand anfühlt ... Den hätte ich ausgelacht.

Für mich war es immer wichtig, zu funktionieren. Die Zähne zusammenzubeißen, auch wenn es mal anstrengend wird. Mein Job ist Stress pur – früher war das aber gefühlt kein Problem für mich. Im Gegenteil. Wenn ich nach einer harten Woche mit zig Überstunden nach Hause kam und ein Auftrag abgeschlossen war, habe ich mir innerlich auf die Schulter geklopft und gesagt „Hey, ich hab´s geschafft – das muss mir erst mal einer nachmachen.“

Als Auslieferungsmanager kümmere ich mich bei einem großen Flugzeughersteller darum, dass die Maschinen fristgerecht an den Kunden übergeben werden können. Im Rahmen dieser Übergabe gibt es oft sehr intensive, stundenlange Verhandlungen, die auch durchaus mal sehr hitzig sein können. Dazu kommt ein enormer Zeitdruck, denn für jede Übergabe habe ich nur vier bis fünf Tage Zeit. Mit jeder Stunde, die durch das Zeitglas rinnt, nimmt der Druck zu.

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"Dass der jahrelange Stress irgendwann bleibende Folgen haben würde, habe ich so nie auf dem Schirm gehabt."
Roman Reinert

Ich habe die Belastung lange ignoriert

Dass dieser Druck nach 16 Jahren im Job seine Spuren bei mir hinterlassen hatte, habe ich lange nicht wahrgenommen. Obwohl es Anzeichen gab. Magenschmerzen, sporadische morgendliche Übelkeit ... Aber ich dachte immer, das ist nur auf den akuten Stress in der Situation zurückzuführen und das muss jetzt eben mal so sein, bis die Auslieferung abgeschlossen ist. Dass der jahrelange Stress irgendwann bleibende Folgen haben würde, habe ich so nie auf dem Schirm gehabt.

Bis ich vor zwei Jahren abends vor dem Fernseher ganz plötzlich heulen musste wie ein kleines Kind. Nicht nur ein bisschen, sondern so extrem, dass ich, von Weinkrämpfen geschüttelt, auf dem Sofa zusammengekauert da lag und nichts mehr um mich herum mitbekommen habe. Erst nach einer halben Stunde war der Spuk vorbei. Das Sofa war klitschnass und ich war körperlich so platt wie nach einem Riesen-Work-out. Mein Kopf war völlig leer und dröhnte gleichzeitig, fühlte sich so groß an wie ein Medizinball. Das war der Moment, in dem ich gemerkt habe, irgendetwas stimmt nicht mir.

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"Oh nee, jetzt kommen die mir hier mit so einer Psychofolklore ... Ich will doch eigentlich nur, dass das, was mit mir nicht stimmt, behoben wird."
Roman Reinert

Die Wirkung des Achtamkeitstrainings war überraschend

Es folgten sechs Monate Krankschreibung wegen Burn-out. Nach vier Wochen hatte ich einen Therapieplatz in einer psychosomatischen Klinik. Schon im ersten ärztlichen Aufnahmegespräch kamen dann Begriffe wie Yoga, Meditation, Achtsamkeit auf. Mein erster Gedanke dazu war „Oh nee, jetzt kommen die mir hier mit so einer Psychofolklore ... Ich will doch eigentlich nur, dass das, was mit mir nicht stimmt, behoben wird. Und zwar schnellstmöglich.“

Dass mich das Thema Achtsamkeit und die Wirkung auf meinen Körper schon nach den ersten fünf Minuten Praxis wirklich packte, kam dann gelinde gesagt, überraschend. Die Trainerin startete die Kursstunde damals mit einer Liegemediation, in der wir uns einfach nur auf den Atem konzentrieren sollten: „Jetzt atmen wir tiiiief in den Bauch. Dann atmen wir in unser rechtes Bein“... Mein erster Gedanke dazu war: „Wie soll das gehen? Ich kann nicht tiefer atmen als meine Lunge groß ist. Geschweige denn in irgendein anderes Körperteil hinein ...“ Aber alle anderen Teilnehmer um mich herum machten auch mit, also ließ ich es einfach passieren. Und war nach wenigen Minuten so vollkommen tiefenentspannt, dass ich einschlief und von meinem eigenen Schnarchen wach wurde.

Heute kann ich während eines Meetings eine Atemmeditation machen

Seit Jahren hatte ich nicht mehr wie auf Knopfdruck so loslassen können. Es war, als ob ich nur einen Impuls von außen gebraucht hätte, der mir sagte „Du kommst jetzt mal zur Ruhe. Und zwar JETZT“ und dass mein Körper das sofort dankend angenommen hat. In der Klinik habe ich dann gelernt, diese Momente der Ruhe auch in meinen ganz normalen Alltag einzubauen, um sie auch in stressigen Situationen abrufen zu können.

Heute kann ich ohne Probleme während eines Meetings eine Atemmeditation durchführen und mich trotzdem voll und ganz auf meinen Gesprächspartner konzentrieren. Ich atme dann ganz locker ein und aus, warte bewusst auf den Impuls zum Einatmen, warte auf den Impuls zum Ausatmen. Nehme die kurze Atempause nach dem Einatmen mit vollen Lungen wahr, nehme die kurze Pause nach dem Ausatmen mit leeren Lungen wahr. Wenn ich das mache, merke ich sofort, dass mein Puls wieder runtergeht.

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"Viele meiner Kollegen sagen mir, dass sie es gut finden, wie ich die Dinge jetzt behandle, dass ich mich positiv verändert habe, ruhiger geworden bin, weniger aufbrausend. Das hat mir viel gegeben."
Roman Reinert

Ich höre heute besser auf Alarm-Signale meines Körpers

Außerdem habe ich gelernt, besser auf meine körperlichen Alarm-Signale zu achten. Wenn ich merke, mir wird warm oder mein Gesicht fängt an sich zu röten, weil ich mich aufrege, dann trinke ich zum Beispiel einen Schluck Wasser, genieße den, rieche daran, atme tief durch. Dann fahre ich zügig wieder auf normal runter. Es ist im Prinzip wie im Flugzeugbau – man hat sich ein Netz an Alarm-Sensoren aufgebaut und wenn die anfangen zu blinken, dann holt man sich ein Werkzeug aus dem Koffer und behebt das Problem.

Wenn mein Körper mir zeigt, dass bestimmte Grenzen erreicht sind, habe ich heute auch kein Problem mehr damit, Nein zu sagen, Schwächen zuzulassen. Und, anders als ich tief in mir drin immer gedacht habe, verurteilt mich dafür auch niemand. Im Gegenteil: Viele meiner Kollegen sagen mir, dass sie es gut finden, wie ich die Dinge jetzt behandle, dass ich mich positiv verändert habe, ruhiger geworden bin, weniger aufbrausend. Das hat mir viel gegeben, denn es zeigt mir, dass andere mich eben nicht nur dann wertschätzen, wenn ich Höchstleistungen liefere. Scheinbar musste ich erst einmal komplett zerstört und wieder aufgebaut werden, um zu verstehen, dass ich ein ganz normaler Mensch sein darf. Mit all seinen kleinen Schwächen.