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Schüler im Klassenzimmer lernen gemeinsam

Mentale Gesundheit: Wie Schüler lernen, über Emotionen zu sprechen

InterviewLesezeit: 3:00 min.

In Zeiten von Corona, Kriegen und Klimawandel haben viele Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen zu kämpfen. Deshalb haben es sich sogenannte Mental Health Coaches zur Aufgabe gemacht, jungen Menschen dabei zu helfen, Ängste, Sorgen und Gefühle der Einsamkeit zu überwinden – und wieder mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Mohammad Nadeem ist ein solcher Coach. Im Interview spricht er über seine Arbeit mit Kindern und erzählt, welche Momente ihn selbst auf besondere Weise bewegen.

Mohammad Nadeem weiß, wie wichtig die psychische Unterstützung für Kinder und Jugendliche nach der Pandemie ist. Isolation, soziale Benachteiligung oder Rassismus – viele Krisen, aber auch Alltagsprobleme, hallen langfristig nach und machen jungen Menschen zu schaffen. Nadeem, der Projektkoordinator bei der AWO in Hamburg ist, begegnet in seiner täglichen Arbeit an Schulen betroffenen Kindern und Jugendlichen, die sich viele dieser Entwicklungen zu Herzen nehmen, denen es jedoch schwerfällt, über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen.

Betroffen sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Vierteln, die in beengten Verhältnissen leben oder einen niedrigen Bildungsstand haben. Das belegt die repräsentative COPSY-Studie (COrona und PSYche) des Hamburger Universitätsklinikums (UKE), die pandemiebegleitend unter Jugendlichen durchgeführt wurde.
Aus diesem Grund hat das Bundeministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Herbst 2023 das Projekt Mental Health Coaches an Schulen gestartet. Ein Jahr lang begleiten die Mental Health Coaches der Jugendmigrationsdienste ausgewählte Schüler im Rheinland und in Hamburg, aber auch bundesweit an hundert Schwerpunktschulen. Ihr Ziel: den Jugendlichen Strategien zu vermitteln, wie sie besser mit belastenden Gefühlen umgehen können. Im Rahmen von Workshops lernen die Schüler außerdem, ihre Selbstfürsorge und Achtsamkeit zu stärken.

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Der Experte zum Thema

Mohammad Nadeem

Projektkoordinator Bundesvorhaben „Mental Health Coaches“ und „Respekt Coaches“, AWO AQtivus Integrationscenter

Herr Nadeem, welche Situation haben Sie zu Beginn des Projekts in den Schulen angetroffen?

Redaktion

Als wir angefangen haben, mit den Schülern zu arbeiten, sahen wir die COPSY-Ergebnisse bestätigt: Schüler leiden nach Corona vermehrt an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Einsamkeit und fehlender sozialer Interaktion. Kinder und Jugendliche möchten Zeit mit gleichgesinnten Freunden verbringen, Vorbilder finden und ihre eigene Persönlichkeit entwickeln. Das fiel in der Pandemie durch die Isolation häufig schwer. Dazu blieben die Kinder zu oft zu Hause. Auch durch das Homeschooling gab es keine Grenzen mehr zwischen Lernort, privatem Rückzug und der eigenen Familie. Und wenn es dann dort Probleme gab, waren die Lehrer und Sozialpädagogen in der Schule als geschützter Raum nicht direkt greifbar.

Mohammad Nadeem

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Betraf das vor allem ältere Schüler oder auch schon die Kleinen?

Redaktion

Es betraf tatsächlich alle Kinder und Jugendliche. Zu den Folgen gehörte zum Beispiel ein starkes Suchtverhalten, ob das nun Smartphone-, Spiel- oder Esssucht ist. Viele hatten keinen richtigen Schlafrhythmus mehr, haben sich sehr schlecht ernährt.

Mohammad Nadeem

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Welches Ziel verfolgen Ihre Projekte generell?

Redaktion

Unsere Projekte sind keine Feuerlöscher für Situationen, in denen schon etwas vorgefallen ist. Uns geht es klar um die Prävention – wie können die Schüler in Zukunft besser mit Lebensereignissen und Problemen umgehen? Da setzen wir voll auf die Erlebnispädagogik, es geht ums Mitmachen. In unseren Teams sind dann auch mal ein Stand-up-Comedian als Kursleiter für eine Schreibwerkstatt oder eine Psychologin des UKE mit am Tisch, die etwas über den Umgang mit Emotionen erklärt. Es finden sich Menschen, die ganz unterschiedliche Ausbildungen, Fachrichtungen und Fähigkeiten zusammenbringen. Das ist eine wunderbare Ergänzung außerhalb des Bildungsplans.

Mohammad Nadeem

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Wie offen besprechen Sie mit den Schülern das Thema psychische Erkrankungen?

Redaktion

So offen wie möglich. Ein sehr großes Ziel dieses Projekts ist es, die Aufmerksamkeit auf und somit die Akzeptanz für psychische Erkrankungen zu steigern. In vielen Kulturen, vor deren Hintergrund Kinder hier aufwachsen, heißt es bei einer Depression schnell: „Ach, lass den, der ist eh verrückt.“ Da greifen wir ein und sagen klar: Nein, das ist eine Krankheit und die nehmen wir ernst.  Denn wenn Jugendliche sich nicht verstanden fühlen, empfinden sie sehr starke und zugleich negative Emotionen, gerade in der Pubertät.

Mohammad Nadeem

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Welche Lösung bieten Sie den Schülern konkret an?

Redaktion

Wir bringen ihnen Strategien für den Umgang mit belastenden Gefühlen bei. Ein erster Schritt zur Veränderung kann dabei sein, über seine Gefühle zu reden. Wir stellen dabei fest, dass die Schüler tatsächlich einen sehr hohen Redebedarf haben. Es fällt ihnen nur manchmal schwer, ihre Themen genau zu beschreiben, weil sie komplizierte Dinge wie zum Beispiel den Nahostkonflikt nicht ganz verstehen.  Kinder und Jugendliche machen sich Gedanken über die weltpolitische Lage, wissen aber nicht, wie sie das ansprechen oder darauf reagieren sollen. Haben sie dazu einen Migrationshintergrund, sehen sie sich häufig mit Rassismus konfrontiert. All das zusammengenommen belastet diese jungen Menschen sehr. Hinzu kommt das Gefühl mangelnder Wertschätzung oder ein ständiger Gruppendruck. Bei Jungen begegnet uns auch oft die Angst davor, in ihrem Milieu offen über Themen zu reden, die als „unmännlich“ gelten und die sich nicht mit ihrer Rolle als „großer, starker Bruder“ vereinen lassen.

Mohammad Nadeem

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Die Kinder und Jugendlichen sollen aber nicht nur reden, sondern ihre Gefühle auch aufschreiben.

Redaktion

Das stimmt. Unserer Ansicht nach ist Schreiben auch ein Ausdruck mentaler Gesundheit: Wir bitten die Schüler, erst einmal zehn Minuten alles herunterzuschreiben, was sie gerade nervt. Oder wir sagen: „Schreibt doch mal einen Brief an euch selbst in zwei Jahren – wo steht ihr, wenn ihr euren Schulabschuss macht, wie geht es euch dann?“ Und dann schreiben und schreiben sie, manchmal mehrere Stunden lang. Das hilft.

Mohammad Nadeem

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Finden Ihre Projekte auch außerhalb des Klassenraums statt?

Redaktion

Im Sommer werden wir mal in den Kletterpark gehen oder gemeinsam Kanu fahren, denn natürlich geht es auch ums Teambuilding. Viele Kinder, die während der Pandemie in neue Klassenverbände gekommen sind, haben ihre Mitschüler nach Corona das erste Mal in echt gesehen, da war kein wirkliches Gruppengefühl da. Viele Schüler waren dadurch verunsichert und haben sich gefragt, wie sie von ihren Mitschülern gesehen werden. Da war ganz viel Vorsicht im Umgang miteinander zu spüren. Und auch Freunde mussten sich neu finden, weil sich die Menschen während der Zeit des Lockdowns natürlich verändert hatten.

Mohammad Nadeem

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Welches Projekt hat Sie am meisten beeindruckt?

Redaktion

In Kooperation mit dem Verein „Wir sprechen fotografisch“ sind wir mit Spiegelreflexkameras durchs Viertel gezogen. Die Schüler haben durch ihre Linse geguckt, um sich auf eigene Art auszudrücken. Sie zeigten uns mit ihren Fotos ihre Perspektive, ihre Welt. Das war unheimlich spannend. Daraus sind dann auch Gespräche über den Stadtteil entstanden, über das Großwerden in diesem Viertel. Und so erfahren wir auch viel über familiäre Hintergründe.

Mohammad Nadeem

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Haben Schüler mit Migrationshintergrund einen anderen Beratungsbedarf?

Redaktion

Ja. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass interkulturelle Unterschiede in der Beratung durchaus einen Unterschied machen. Wenn ich aus einer ähnlichen Kultur komme, kann ich die Schüler besser verstehen und werde auch anders wahrgenommen. Ich verstehe, dass Schüler aus einer anderen Kultur in Deutschland häufig ein Leben in Widersprüchen führen. Da herrscht eine Diskrepanz zwischen ihrer Familie auf der einen und zum Beispiel der Schule auf der anderen Seite. Darauf gehen wir in den Workshops auch ein: Wie können sie künftig besser mit diesen Gegensätzen umgehen?

Mohammad Nadeem

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Wie reagieren Sie auf sehr emotionale Momente?

Redaktion

Wir sprechen ja nicht nur über Ängste und Stress, sondern auch über Wut und Frustration. Die Schüler sind dabei unheimlich mutig, gehen aus sich heraus, erzählen sehr Privates. Darauf reagieren wir flexibel, legen unseren Methodenkoffer beiseite und sagen: Okay, wenn das hier ein größeres Thema für euch ist, dann lasst uns genau jetzt darüber reden.

Mohammad Nadeem

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Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen?

Redaktion

Ich hoffe, dass die jungen Menschen beim Rückblick auf ihre Schulzeit nicht nur an Leistungsdruck oder Prüfungsangst denken, sondern vielleicht auch an diese Workshops, wo sie nicht benotet worden sind. Und dass sie im späteren Leben auf ein paar Werkzeuge oder Methoden zurückgreifen können, die sie hier gelernt haben.

Mohammad Nadeem

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Bei dem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Präventionsprogramm JMD Mental Health Coaches dreht sich alles um die psychische Gesundheit von Schülern. Im Rahmen von Workshops, die außerhalb des Lehrplans direkt an den ausgewählten Schulen angeboten werden, lernen die Schüler, ihre psychische Widerstandskraft zu stärken. Sie können sich mit Fachkräften aus den Bereichen Sozialpädagogik und Psychologie offen über ihre mentale Gesundheit austauschen und über Hilfs- und Beratungsangebote informieren. Die Teilnahme ist freiwillig.

Vieles kann unser seelisches Gleichgewicht ins Wanken bringen. Niedergeschlagenheit, Wut oder das Gefühl, wie gelähmt zu sein, sind dann Angst-Reaktionen unseres Körpers. Einfache Mittel können helfen, die Angst zu bewältigen. Mehr dazu liest du hier.