Der Kinderarzttermin am Nachmittag, das Geschenk für die Einladung zum Kindergeburtstag am nächsten Wochenende, noch schnell im Schlussverkauf die Winterjacke in der nächsten Größe kaufen, bevor sie im Herbst wieder so teuer sind ... Das sind nur ein paar Gedanken für die ständige Denkarbeit, die alle Eltern jeden Tag leisten, aber Alleinerziehende besonders – weil sie nur einen statt zwei Köpfe zur Verfügung haben.
Als „alleinerziehend“ gelten in der Regel Mütter und Väter, die ohne Partnerin oder Partner mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. 2022 gab es rund 1,57 Millionen Alleinerziehenden-Familien in Deutschland – damit besteht jede fünfte Familie aus nur einem Elternteil. 85 Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich.
Allerdings lässt sich der Begriff noch weiter fassen. Denn auch innerhalb von Paarbeziehungen kann eine Mutter oder ein Vater „allein erziehend“ sein. Das ist der Fall, wenn sich die komplette Organisation der Familie und des Alltags inklusive aller Entscheidungen auf eine Person fokussiert, weil der andere Elternteil entweder physisch oder psychisch nicht am Alltag teilnimmt. Unabhängig von der Form des Alleinerziehens schlägt sich das in viel Mental Load nieder – einer unsichtbaren To-Do-Liste im Kopf, die die mentale Gesundheit negativ beeinflussen kann. Stefanie Mädel ist Psychologin und Mental-Health-Trainerin. Sie erklärt im Interview die Ursachen und was Alleinerziehende dagegen tun können.
Die Expertin zum Thema
Stefanie Mädel
Psychologin und Mental-Health-Trainerin, TRAENT
Foto: Patrick Pfeiffer
Frau Mädel, wie steht es um die mentale Gesundheit von Alleinerziehenden?
Redaktion
Alleinerziehend zu sein, hängt negativ mit der mentalen Gesundheit zusammen, d.h. je mehr mentale Last auf einer Person liegt, desto höher ist tendenziell auch das Stresserleben. Wer sich viel kümmert und Verantwortung trägt, hat weniger Zeit für Erholung.
Mir ist aber wichtig zu betonen, dass es nicht DIE Alleinerziehenden gibt. Das ist keine homogene Gruppe. Jedes Alleinerziehenden-Dasein hat eine eigene Historie: Es gibt verwitwete Personen, es gibt getrennt lebende Personen und es gibt Personen, die aus Eigeninitiative den Status alleinerziehend gewählt haben. Prägend ist zudem die eigene Persönlichkeit ebenso wie die eigene Kindheit und Sozialisation, der gesellschaftliche und finanzielle Status oder die gelebte Patchworkfamilien-Konstellationen ... Fakt ist aber, dass wir sehr viel mehr weibliche als männliche Alleinerziehende haben.
Stefanie Mädel
Und was unterscheidet weibliche und männliche Alleinerziehende?
Redaktion
Meine Beobachtung bestätigt leider ein Klischee: Wenn Frauen alleinerziehend sind, ist das in unserer Gesellschaft normal. Das heißt, sie bekommen dafür kaum Anerkennung oder Wertschätzung, kein „Wow, wie du das alles schaffst!“ Wenn aber ein Mann sich allein kümmert – und sei es nur ein Wochenende – oder wenn die Frau mal beruflich weg ist oder ins Krankenhaus muss, gibt es gesellschaftlich und familiär oft eine andere Form der Anerkennung und Unterstützung. Da sind in der Regel sehr schnell Menschen zur Stelle, die anbieten, für den Mann und die Kinder zu kochen oder ihm ein paar Stunden die Kinder abzunehmen.
Da kommt immer noch der Gender Bias zum Tragen, also unsere verfestigten Vorurteile, die sogar weibliche Alleinerziehende als Reaktion auf (vorübergehend) alleinerziehende Männer zeigen. Diese Rollenbilder, die sich über so viele Jahre in vielen von uns festgesetzt haben, wirken auch heute noch oft nach.
In vielen Köpfen ist fest verankert: Frauen kümmern sich. Das könnten die ja von Natur aus, das wäre ihnen schließlich angeboren. Von Vätern erwarten wir dieses Kümmern nicht so selbstverständlich, weil die ja mehr erwerbstätig sind und ganz andere Aufgaben haben und Fürsorge auch gar nicht so gut können wie die Mutter. Das klingt ironisch, ist aber immer noch in vielen Familien Realität.
Stefanie Mädel
Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) machen sich 39 Prozent der Alleinerziehenden Sorgen, dass sie den Belastungen ihrer Situation nicht mehr standhalten. 32 Prozent haben nicht genügend Zeit für ihre Bedürfnisse. Und trotzdem sagen nur 17 Prozent, dass sie es nicht schaffen, ihren Alltag zu organisieren. Das klingt nach viel Stress.
Redaktion
Ja, und der kann viele Ursachen haben. Neben finanziellen Sorgen, emotionalen Problemen, Zukunftsängsten, Ausgrenzung und sozialem Abstieg, ist es vor allem eines, das stresst: dieses Gefühl, die Verantwortung für alles ganz allein zu tragen, nichts davon abgeben zu können. Dazu kommt die innere Stimme, die ständig mahnt: Wenn ich nicht dran denke, dann tut es keiner. Das ist das, was in dieser Rolle sehr oft zu einer großen Überforderung führt.
Stefanie Mädel
Wie wichtig und wie richtig ist es, aktiv um Hilfe zu bitten? Und wo gibt es die?
Redaktion
Wer mit einer hohen mentalen Belastung lebt, profitiert schon von kleinen Entlastungen. Dazu gehört auch, die Kinder stärker in die Aufgabenplanung und -erledigung miteinzubeziehen. Solche verteilten Arbeitsroutinen helfen Mama oder Papa und stärken die Kinder in ihrer Sozialisation.
Außerdem kann ich immer nur dazu raten, sich ein Netzwerk aufzubauen aus Großeltern, Leihomas oder -opas, Nachbarn, Freunden, Kollegen und anderen Alleinerziehenden. So lassen sich persönliche Freiräume schaffen, denn wenn die Selbstfürsorge zu kurz kommt und wir immer auf dem Zahnfleisch gehen, bleiben wir nicht gesund und leistungsfähig. Irgendwann ist der Akku leer. Dazu sollte es erst gar nicht kommen.
Ich appelliere hier auch an die Gesellschaft, an unser Sozialverständnis und an die Empathie: Alleinerziehende brauchen ein Netzwerk. Es geht ums Ansprechen, ums Nachfragen, wie es geht, ums Zuhören und auch mal um die Schulter zum Ausheulen.
Das gilt auch für Arbeitgeber bzw. die Führungskräfte von Alleinerziehenden: Fragen Sie Ihre Mitarbeitenden, was sie in dieser besonderen Situation brauchen, wie sich die private Belastung besser mit dem Job vereinbaren lässt, wie das Unternehmen gerade jetzt unterstützen kann.
Stefanie Mädel
Und was ist mit den Kindern von Alleinerziehenden – wie wirkt sich ein hoher Mental Load auf sie aus?
Redaktion
Ich kenne viele Mütter, die versuchen, ihre Belastung nach außen nicht zu zeigen – auch, um eben nicht dem Klischee der überforderten Alleinerziehenden zu entsprechen. Deshalb geben sie sich besonders Mühe, nicht zu viele Emotionen zu zeigen. Sie überschreiten permanent ihre eigenen Grenzen, nur um allen zu beweisen, dass sie das allein hinkriegen.
Die Kinder sehen aber, dass Mama immer gestresst ist und ständig die Zähne zusammenbeißt. Meine Empfehlung ist, besser auf sich zu achten und stattdessen den Kindern vorzuleben, dass jeder eine Pause braucht. Mütter dürfen auch mal sagen: „Du, mir ist es heute zu viel“ oder „Ich habe manchmal das Gefühl, ich schaff es nicht und deswegen weine ich gerade viel.“ Wenn wir das immer wieder versuchen zu vertuschen, damit das Kind ja nicht merkt, dass es einem schlecht geht, ist das ein falsches Vorbild. Das Kind lernt dann: Du darfst deine Gefühle nicht zeigen.
Andererseits sollten Eltern aber auch nicht alles an ihre Kinder spielen – finanzielle Sorgen oder Probleme in der Partnerschaft dürfen Kinder nie ungefiltert abkriegen.
Stefanie Mädel
Was raten Sie Neu-Alleinerziehenden, um nicht direkt mit dem Beziehungsstatus-Wechsel in die Mental-Overload-Falle zu tappen?
Redaktion
Erstens: Selbstfürsorge ist etwas Wichtiges, nicht Egoistisches. Es geht darum, gesund und ausgeglichen zu bleiben.
Zweitens: Auf jeden Fall Hilfe suchen und annehmen, vielleicht sogar schon vor der Trennung. Niemand muss alles alleine schaffen. Es gibt sehr viele Beratungsstellen für Alleinerziehende, von lokaler Elternberatung über Profamilia oder Caritas bis hin zum Jugendamt – vor dem viele Alleinerziehende übrigens zu Unrecht Angst haben, denn meistens sitzen da sehr wohlwollende Menschen, denen viel daran liegt, Familien zu unterstützen.
Drittens: Wenn sich Freunde aufgrund der neuen Situation von einem abwenden, lohnt es sich nicht, darum zu kämpfen. Diese Energie und diese Zeitressourcen sind woanders besser investiert, zum Beispiel in das Knüpfen neuer Kontakte, aus denen vertrauensvolle Freundschaften entstehen können.
Stefanie Mädel
Der Tipp, um Hilfe zu bitten, ist sicher gut. Damit haben aber ganz viele Probleme.
Redaktion
Ja, das stimmt. Das liegt mitunter an unseren inneren Glaubenssätzen, die wir so im Gepäck haben. Dinge, die unsere Eltern, Lehrer, Erzieher oder Vorgesetzte früher zu uns gesagt haben, etwas wie: „Du musst es allein schaffen“ oder „Du musst es perfekt machen“ ... Hier sollte man sich selbst gut zureden und sagen: „Wenn es mir wirklich schlecht geht, dann darf ich auch um Unterstützung bitten. Und trotzdem mache ich ja noch ganz viel allein.“ Sich selbst diese Erlaubnis zu geben, ist ein sehr liebevoller und wohlwollender Akt, der dann nicht nur einem selbst, sondern oftmals auch den Kindern zugute kommt.
Stefanie Mädel
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