Kinder bringen uns an unsere Grenzen. Wie Achtsamkeit uns helfen kann, auch in stressigen Zeiten die Nerven zu behalten, erklärt Psychologe und Achtsamkeitsforscher Johannes Michalak im Interview.
Der Experte zum Thema
Prof. Johannes Michalak
Psychologe und Achtsamkeitsforscher
Universität Witten/Herdecke
Viele Eltern stehen unter einem enormen Druck. Manchmal reicht es schon, dass bei Tisch ein Glas Milch umkippt – und die Sache eskaliert. Wie kann Achtsamkeit hier helfen?
Redaktion
Statt einfach nur wahrzunehmen, was da gerade passiert ist, sind wir häufig in einer komplexen Gedankenwelt. Wir zeichnen Szenarien: Wie soll das weitergehen mit diesem zappeligen Kind? Oder wir schauen in die Vergangenheit: Seit drei Jahren habe ich hier jetzt ständig Stress. Vielleicht gehen wir sogar noch weiter und fragen uns: Was habe ich bloß falsch gemacht?
Prof. Johannes Michalak
Was genau ändert sich also mit Achtsamkeit?
Redaktion
Es geht darum, bewusst wahrzunehmen, was gerade da ist. Und zwar möglichst ohne zu bewerten. Achtsamkeit bedeutet, ganz im Hier-und-Jetzt zu sein. Gerade im Nicht-Werten von Erfahrungen können sich neue Möglichkeiten ergeben, wie wir mit Situationen umgehen – auch mit stressigen. Das Üben von Achtsamkeit kann dabei helfen, das Gedankenkarussell anzuhalten. Wir geraten also nicht mehr so schnell in die Grübelfalle.
Prof. Johannes Michalak
Das klingt schwierig. Im Kinderzimmer sieht‘s aus wie nach einer Explosion und ich schaue mir das einfach nur an und denke – ganz sachlich – Chaos?
Redaktion
Naja, Achtsamkeit ist nichts, was sich auf Knopfdruck einstellt oder auch durch einen achtwöchigen Kurs für immer erlernen ließe. Aber so ein Kurs kann ein wichtiger Einstieg sein, um eine Erfahrung mit Achtsamkeit zu machen und sie aufgrund dieser Erfahrung in sein Leben und den Alltag einzubinden.
Prof. Johannes Michalak
Und dann kommt man mit dem Chaos im Kinderzimmer besser klar?
Redaktion
Wer regelmäßig Achtsamkeitsübungen macht und nach und nach seinen ganzen Körper und alle auftauchenden Empfindungen erspürt, dem fällt es möglicherweise leichter, in solchen Situationen innezuhalten und nicht kurzschlussartig zu reagieren. Eine kurze innerliche Auszeit sozusagen. Wichtig ist, dass Achtsamkeit nicht nur in Hochstresssituationen praktiziert wird. Den Fallschirm zu falten, wenn das Flugzeug gerade abstürzt, das ist keine gute Idee. Der Fallschirm muss schon vorher gefaltet sein.
Prof. Johannes Michalak
Achtsamkeit ändert also nicht die Situation, sondern die Art, wie ich damit umgehe?
Redaktion
Die Belastungen sind da, der fordernde Alltag ist da, keine Frage. Aber wenn ich beginne, wieder bewusster für die Familie und auch für mich selbst zu sorgen, kann etwas in Bewegung kommen. Ich sehe dann vielleicht neben der Überforderung auch Hoffnung, Kreativität und Mut zum Weitergehen. Zahlreiche Studien belegen die breite Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen auf Stress, Ängste und Depressivität. Übrigens sind die Effekte ein wenig höher, wenn die ganze Familie, also auch die Kinder im Rahmen von Eltern-Programmen mit einbezogen sind.
Prof. Johannes Michalak
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